Mit Was ist des Richters Vaterland? überschreibt Prof. Dr. Markus Bernhardt seine 2011 im Berliner Wissenschaftsverlag veröffentlichte Habilitationsschrift. Am Beispiel der zwischen 1879 und 1922 im Herzogtum bzw. Freistaat Braunschweig tätigen Justizjuristen untersucht er in seiner Studie die außerrechtlichen Faktoren, die neben „Recht und Gesetz“ die Entscheidungsfindung von Richtern beeinfluss(t)en.
Obgleich es sich um eine (rechts-)historische Studie handelt, lässt sich das gut geschriebene Buch durchaus mit Gewinn für die Gegenwart lesen, denn Richterinnen und Richter mögen streng an Recht und Gesetz gebunden sein, sind aber keine bloßen „Subsumtionsautomaten“, die ihre Entscheidungen völlig unbeeinflusst von außerrechtlichen Faktoren fällen (daran glaubt selbst die Richterschaft – so Bernhardt – inzwischen nicht mehr).
Für die anwaltliche Praxis folgt daraus, sich neben allen rechtlichen Erwägungen auch stets der „Multidimensionalität richterlicher Urteilstätigkeit“ (dazu bereits Wassermann 1985) zu vergegenwärtigen (mit anderen Worten: Neben Recht sollten Psycho- und Soziologie bei der forensischen Arbeit nicht völlig außer Acht gelassen werden…).
Rechtsanwalt Dr. Behrens hat das Buch für den Braunschweigischen Geschichtsverein e. V. rezensiert. Die Rezension ist zum Abdruck im Braunschweigischen Jahrbuch für Landesgeschichte 2012, Bd. 93, vorgesehen und hier vorab in voller Länge zu lesen:
Markus B e r n h a r d t, Was ist des Richters Vaterland? Justizpolitik und politische Justiz in Braunschweig zwischen 1879 und 1919/20. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2011, 418 S., 49,00 €
Mit „Was ist des Richters Vaterland?“ überschreibt Markus Bernhardt seine Habilitationsschrift und fragt damit nach den Faktoren, die neben „Recht und Gesetz“ Entscheidungen von Richtern beeinfluss(t)en. Er beantwortet die Frage, indem er „den Richter in einer Art Feld betrachtet, auf das vier verschiedene Kräfte in unterschiedlicher Intensität einwirken: 1. die Maßnahmen der Justizverwaltung und des Gesetzgebers, 2. der wie auch immer rezipierte zeitgenössische rechtswissenschaftliche Diskurs, 3. das soziale Umfeld des Richters und 4. das soziale Umfeld des Falles oder des Angeklagten“ (S. 19). Einem Vorschlag Diestelkamps folgend, unterscheidet er dabei drei verschiedene Dimensionen, um das Vier-Kräfte-Feld richterlichen Handels methodisch am besten einfangen zu können: „1. Gesetzgebung, Gesetzesrecht und administrative Praxis (Normengefüge), 2. Richter, Staatsanwälte, Verwaltungsbeamte, Anwälte (Rechtsstab), 3. Urteile und Akten (Rechtspraxis und -dogmatik)“.
Die Arbeit ist dementsprechend in drei Großkapitel gegliedert: „Die Braunschweiger Justiz im Bundesstaat (1879-1919/20)“ (Erster Teil, S. 33-175), „Das Personal des Landgerichts in Braunschweig zwischen 1879 und 1924“ (Zweiter Teil, S. 179-271) und „Die Strafrechtspraxis der Braunschweiger Landgerichte zwischen 1879 und 1920 im Vergleich“ (Dritter Teil, S. 275-399). Die Richterschaft Braunschweigs bot sich dabei als ideales Untersuchungsobjekt an: Auch nach der Reichsgründung 1871 bildeten die Bundesstaaten den politischen Handlungshorizont des Bürgertums. Das Herzogtum Braunschweig ist vor dem Hintergrund der starken Kontinuität und Stringenz seiner Landesgeschichte im 19. Jahrhundert und da es nach 1879 einen eigenen, mit dem Staatsgebiet identischen Oberlandesgerichtsbezirk bilden konnte, ein „nahezu ideales Objekt“.
Im ersten Teil untersucht Bernhardt die institutionell-administrative Seite der Justiz im Herzogtum. Hinsichtlich der Reichsebene fragt er, „ob es der Regierung des Herzogtums gelungen ist, eigene Vorstellungen in die Gestaltung der künftigen Gerichtsordnung in die Beratungen und Beschlüsse des Bundesrates einzubringen“ (S. 28). Im Ergebnis verneint er die Frage u. a., weil Braunschweig vor dem Hintergrund der mit der Kinderlosigkeit des regierenden Herzogs einhergehenden Thronfolgefrage bei den anderen Regierungen lange als preußischer Übernahmekandidat galt (S. 47), so dass etwa Verhandlungen mit Oldenburg über die Errichtung eines gemeinsamen OLG scheiterten (S. 90). Bemerkenswert ist der Hinweis Bernhardts auf eine möglicherweise von Preußen beabsichtigte Annexion der kleineren Staaten „auf dem Verwaltungswege“ (S. 91) durch eine wie auch immer geartete Einbindung der Kleinstaaten in das preußische Justizsystem. Allerdings zog die Braunschweiger Regierung nie ernsthaft den Anschluss seines Landgerichts an ein preußisches Oberlandesgericht in Erwägung. Stattdessen errichtete sie ungeachtet der unverhältnismäßig hohen (Folge-)Kosten ein eigenes Oberlandesgericht und konnte die partikulare Hoheit Braunschweigs dadurch in mehrfacher Hinsicht wahren: Die Identität von Oberlandesgerichtsbezirk und Staatsgebiet ermöglichte der Landesregierung die Gestaltung von Ausbildungs-, Zugangs- und Besoldungsregeln, ohne die Bedürfnisse eines anderen Staates berücksichtigen zu müssen (S. 22). Daneben waren Rechtsfragen aus dem Partikularrecht nicht revisibel, d. h. entsprechende zivilrechtliche Entscheidungen unterlagen nicht der reichsgerichtlichen Überprüfung in der Revisionsinstanz, da es bis zum Inkrafttreten des BGB nur für zivilrechtliche Fragen zuständig war, die ein in mehreren OLG-Bezirken geltendes Recht betrafen.
Wesentliche Rahmenbedingungen der Gerichtsorganisation Braunschweigs setzten die neuen Reichsjustizgesetze, vor allem das am 1. Oktober 1879 in Kraft getretene Gerichtsverfassungsgesetz (GVG). Dessen Umsetzung durch Landesrecht bedeutete für das Justizwesen im Herzogtum u. a. einen Paradigmenwechsel: Karrieren im Justizdienst konnten fortan nicht mehr „ersessen“ werden, sondern die Justizverwaltung stellte den Bedarf fest und traf danach aus den geeigneten Bewerbern eine Auswahl. Daraus folgte eine stärkere Abhängigkeit der künftigen Justizjuristen vom politischen Zentrum und eine stärkere Betonung ihrer Beamteneigenschaft (S. 112). Nach der Jahrhundertwende sollten die Kosten der Justiz zum Problem werden: Auf dem Landtag von 1904 traten die Finanzkrise (S. 167) und durch den zunehmenden Finanzdruck in der Phase von 1903-1916 die historisch gewachsenen strukturellen Probleme des Kleinstaates insgesamt deutlich zu Tage: Die unmoderne und kostspielige zerrissene Territorialstruktur führte zu einer differenzierten Situation, in der die Anzahl der Amtsgerichte zu hoch, das mit seinen knappen Ressourcen für einen vergleichsweise großen Bezirk zuständige Landgericht dagegen zunehmend unter Druck geriet und das OLG schließlich politisch gewollt, justiztechnisch aber überflüssig war (S. 170).
Im zweiten Teil seiner Arbeit erstellt Bernhardt ein Sozialprofil der Justizjuristen des Herzogtums, wobei neben geographischer und sozialer Herkunft Ausbildung, Karriere sowie gesellschaftliches und politisches Engagement der Richter im Vordergrund stehen. Neben ihrer Verortung in der sozialen Hierarchie der bürgerlichen Gesellschaft des Herzogtums stellt er die Einordnung der Richter und Staatsanwälte in die staatliche Hierarchie der Beamten dar und bildet dafür zwei Gruppen von Justizjuristen, von denen die Angehörigen der einen vor, die der anderen nach 1879 ihr zweites Examen abgelegt haben. Auf der Grundlage seiner sehr detaillierten Untersuchung der sozialen Herkunft der Justizjuristen zeigt er die Bedeutung der Justizbeamten des Herzogtums als „integraler Bestandteil der vornehmen großbürgerlichen Führungsschicht, welche sämtliche Positionen in Regierung und Verwaltung unter sich aufteilte“ (S. 203) auf, wodurch der Beruf des Richters oder Staatsanwalts ein außerordentlich großes Ansehen genoss und „keineswegs wie in Preußen ein Pool für die zweite Garnitur oder unzuverlässige Elemente“ war. Bernhardt weist anschaulich nach, dass nur aus den Merkmalen „Oberschichtangehöriger“ und „Länge der Ausbildung“ die Entstehung von Klassenjustiz nicht erklärt werden kann (S. 240). Daneben geht er auf die Karrieren von Justizjuristen (S. 242 ff.), ihr politisches Engagement in Parteien und Parlamenten (S. 250 ff.) sowie insbes. auf das Welfenproblem und die politische Tätigkeit der Richterschaft (S. 258 ff.) ein.
Der dritte Teil hat insgesamt 121 (38 politische und 83 sonstige) Strafverfahren zum Gegenstand, anhand derer Bernhardt „das Verhältnis der Richter zu Politik und Gesellschaft untersucht und vor allem die These der Klassenjustiz überprüft“ (S. 29). Die untersuchten politischen Verfahren behandelten Majestätsbeleidigung (S. 285 ff.) auch als „politische Waffe“ gegen die Welfen (S. 289 ff.), Massenschlägereien als indirekte politische Phänomene (S. 302 ff.), Verfahren gegen Sozialdemokraten (S. 309 ff.), Straftaten unter den Bedingungen des Krieges (S. 325 ff.) und in Verbindung mit dem Generalstreik von 1919 (S. 335 ff.). Bernhardt weist u. a. auf die politische Instrumentalisierung des Begriffs „Klassenjustiz“ hin, den vor allem die USPD mit großer Selbstverständlichkeit gebrauchte, ohne ihn inhaltlich näher zu konkretisieren, so dass die Sachargumente des bürgerlichen Lagers dagegen zumeist ins Leere liefen (S. 363). Aus dem Bereich der nicht-politischen Strafverfahren untersucht er ausgewählte Verfahren zu Eigentums- (S. 377 ff.), Gewalt- (S. 382 ff.), Sexual- (S. 391 ff.) und Täuschungsdelikten (S. 396 ff.) Danach ist – anders als in den politischen Verfahren – in dem Verhalten der Richter gegenüber den verschiedenen Tätergruppen (Unterschichtsangehörige und bürgerliche Personen) das zu erkennen, was Liebknecht mit dem Begriff „Klassenjustiz“ umschrieben hat (S. 398): Wurden die Lebensumstände von Tätern aus der Unterschicht nicht weiter thematisiert und deren abweichendes Verhalten mit „vorgefassten Erzählmustern vom gefallenen oder verhinderten Menschen“ erklärt, betrachteten die Gerichte bei den bürgerlichen Tätern auch deren reale Existenz.
Die Antwort auf die Ausgangsfrage nach „des Richters Vaterland“ kann nur Braunschweig lauten: Regelmäßig waren die Richter des Herzogtums geographisch wie sozial immobil und hatten einen begrenzten beruflichen, gesellschaftlichen und politischen Handlungshorizont, so dass die allermeisten die Grenzen ihres „Vaterlandes“ nicht überschritten. Begünstigt wurde die „braunschweigische Kirchturmpolitik“ (S. 400) durch die Erfahrung, auf Reichsebene nichts bewirken zu können. Bernhardt zeichnet anschaulich das Bild vom Braunschweiger Staatsbürger, der zwar das gemeinsame Haus des Reiches bewohnte, sich dabei aber in sein Zimmer zurückzog, die Tür verschloss und die Ausgestaltung des Raumes betrieb. Die Studie zeigt, dass Justiz Landessache ist und stellt damit bisherige Forschungsergebnisse über die Justiz im Kaiserreich in Frage. Es verbietet sich jedenfalls, von einem Typus des „deutschen Richters“ (S. 404) auszugehen. Die deutsche Justiz kann nicht verallgemeinernd anhand der insofern untauglichen preußischen Perspektive beurteilt werden, stattdessen muss den regionalen Traditionen größere Beachtung geschenkt werden. Das partikulare Bürgertum mit seinen spezifischen Besonderheiten war Referenzgruppe der Braunschweiger Richter und nicht die deutsche Richterschaft oder eine nationale bürgerliche „Klasse“. Hieraus zogen die Richter die in ihre Strafurteile einfließenden außerrechtlichen Handlungsnormen.
Abschließend formuliert Bernhardt das Desiderat, es bei künftiger Beurteilung richterlichen Handelns zu vermeiden, nur deren Herkunfts- und Ausbildungsbedingungen zur Erklärung heranzuziehen. Vielmehr sollte die „Perspektive unbedingt durch die Hervorhebung der politischen Rahmenbedingungen“ erweitert werden. War doch die politische Justiz der Braunschweiger Richter nicht nur Ausdruck einer allgemeinen bürgerlichen Identität, sondern „auch Folge des spezifischen Verlaufs der historischen Entwicklung in des Richters ‚Vaterland‘“ (S. 405).
Insgesamt legt der Verfasser eine detailreiche, gut zu lesende Untersuchung vor, mit der er nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der Geschichte der Justizpolitik und politischen Justiz in Braunschweig leistet, sondern zugleich spannende Fragen für künftige Forschungsvorhaben aufwirft – Wissenschaft, wie sie sein sollte.
Christian Behrens, Uelzen